Schlafwandler

Christopher Clarks Buch „Die Schlafwandler“, in dem die Prozesse beschrieben werden, die zum Ausbruch des ersten Weltkriegs geführt haben, hat mich nachhaltig beeindruckt. Einmal wegen der farbigen Beispiele und Formulierungen, von denen ich einige hier bereits wiedergegeben habe. Hier noch eine schöne: „Die Österreicher glichen Igeln, die ohne nach links oder rechts zu schauen, über eine Autobahn trippeln.“ (S. 550).

Das Bild, das Clark zeichnet, ist das einer komplexen Situation, die die Akteure auf dem Höhepunkt der Krise nicht mehr beherrschen. Eigentlich hat keiner den Krieg gewollt. Ob das richtig ist oder nicht, ist umstritten, worauf Clark auch selbst hinweist. Aber der Hinweis, dass es auch in der Gegenwart  zu komplexen und nicht beherrschbaren Situationen gekommen ist – die Euro-Krise wird ausdrücklich erwähnt – leuchtet mir ein.

Heute morgen wurde im Radio Dieter Kohlross zum Auftakt des NSU-Prozesses interviewt. In einem Nebensatz erklärte er, warum sich das Gefühl dagegen sperrt, die Erklärung von Christopher Clark für den Ausbruch des ersten Weltkrieges zu akzeptieren:“Wir sind sinnproduzierende Tiere, unterscheiden uns von den Tieren eben dadurch, dass wir Sinn produzieren, mit dem Akuten, mit der Betonung auf dem Produzieren. Wir können es nicht ertragen, im Sinnlosen, in der Sinnlosigkeit, in der Erklärungsnot belassen zu werden.“

Eine Kombination von Fehleinschätzungen und Überforderungen als Ursache von Millionen Toten? Kann das sein? Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht, aber ich kann sowohl gut nachvollziehen, dass es so war als auch, dass diese Erklärung zumindest vom Gefühl her inakzeptabel ist.

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