Was ich aus der Lektüre von 967 Seiten Tolstoi (Anna Karenina) mitnehme

  • grundlegende Entscheidungen: Wenn man eine grundlegende Entscheidung trifft, kann man sich nicht sicher sein, dass man die Folgen korrekt einschätzt. Anna und Wronskij waren sich absolut sicher, dass ihnen ihre Liebe als Lebensinhalt  ausreicht und dass die Gesellschaft und die Konventionen ihnen egal sind. Das stellt sich im Roman aber als unzutreffend heraus.  Eine Erfahrung, die jeder – wenn auch nicht mit so tragischem Ausgang – kennt und die weiter zu der Frage führt, ob und inwieweit die Zukunft plan- und vorhersehbar ist.
  • Individuum und Gesellschaft: Wie viel Akzeptanz durch die Gesellschaft – und das heißt im Umkehrschluss wie viel Anpassung an die Gesellschaft – brauchen wir um zu überleben, bzw. um glücklich zu sein.
  • Männer und Frauen in der Gesellschaft: Annas und Wronskijs Handlungsmöglichkeiten werden durch die  gesellschaftlichen Vorgaben bestimmt, das heißt, dass Anna als Ehebrecherin, die ihren Mann verlassen hat, vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen ist. Für Wronskij gilt das nicht. Er hat weiterhin nahezu alle Optionen offen. Einer der Gründe für den Bruch. Wer ist schlimmer dran? Anna, die den herrschenden Konventionen zum Opfer fällt oder Wronskij, der zumindest mit seinem Verhaltensrepertoire nichts gegen die schleichende Entfremdung, nichts gegen Annas Depressionen wegen der gesellschaftlichen Ächtung und wegen des Verlusts ihres Sohnes tun und auch ihren Suizid nicht verhindern kann. Hätte er etwas tun können? Was hätte er tun können?
  • Intellektualität vs. Bodenständigkeit: Der Roman vertritt die These, dass Klugscheißerei einen nicht wirklich weiterbringt. Konstantin Lewin versucht, die großen Fragen nach Leben und Tod, Liebe, Gesellschaft und Gerechtigkeit, Mann und Frau intellektuell anzugehen und scheitert damit. Mit sich und der Welt Frieden kann er erst schließen, nachdem er aufgehört hat, sich diesen Fragen intellektuell zu nähern und anfängt, Entscheidungen aus dem Bauch heraus zu treffen ohne den Anspruch, gleich die ganze Welt retten zu wollen. Ich denke nicht, dass  Lewins Weg für jeden der richtige ist, aber darüber nachzudenken, ob Intellektualität bei den wesentlichen Aspekten menschlicher Existenz wirklich weiterhilft, ist ganz bestimmt nicht verkehrt.

„Auch der Gutsbesitzer konnte, …

… wie alle selbständig denkenden Eigenbrötler sich nicht in andrer Leute Ansichten hineindenken und hielt nur um so leidenschaftlicher an seinen fest.“

L. Tolstoi, Anna Karenina, S. 397